Tagebuch einer Katastrophe
Mittwoch, 14. Juli 2021
Ich sitze in meinem kleinen Home-Office und starre in den Garten. Es regnet und regnet. Und regnet noch mehr. Vom Garagendach stürzt ein Bergbach ins Reservoir, das bereits überläuft, weil der eigentliche Überlauf das Wasser nicht mehr fassen kann. Die Pfützen auf dem Rasen bilden inzwischen einen zusammenhängenden See. Ich sollte mal nach dem Keller sehen. Das Haus ist alt, die Grundmauern nicht gut isoliert. Bei Starkregen suppt immer etwas durchs Gemäuer. Unten im Keller kommen mir an den bekannten Stellen bereits die ersten Bächlein entgegen. Wenig später sind aus den Bächlein bereits ausgedehnte Pfützen geworden. Entlang der Wände sprudeln Serien von kleinen Springquellen. Meine Hausmitbewohnerin kommt hinzu. Gemeinsam verfrachten wir das Wasser mit Besen und Abzieher in den Ablauf in der Waschküche. Der See im Garten hat sich inzwischen bis zur Garage ausgedehnt. Wenn das so weiter schüttet, dann läuft das alles über die Außentreppe in den Keller. Ich baue meinen Terrassentisch vor die Treppe, dichte alles so gut es geht ab und hoffe das die Sperre zumindest den Großteil der Flut in Richtung Straße ablenkt.
Der Regen hat nachgelassen. Der Gartensee scheint nicht weiter zu wachsen. Im Keller unterdessen läuft an immer mehr Stellen immer mehr rein. Alles, was noch nicht auf Beinen oder Klötzchen steht, muss hochgeräumt werden. Gegen halb Eins geben wir den Kampf gegen das eindringende Wasser auf.
Donnerstag, 15. Juli 2021
Ich werde gegen halb Vier wach und habe kein Licht. Mit Handy als Taschenlampe runter zum Zähler. Das Wasser steht flächendecken etwa 1-2 Zentimeter hoch, kann die Elektrik also nicht erreicht haben. Die Sicherungen sind alle drin. Dafür ist der tiefer liegend Heizkeller bis Oberkante Türschwelle abgesoffen. Blick nach draußen: alles Zappenduster. Die ganze Straße hat keinen Strom. Ich finde keinen Schlaf mehr. Ab halb Fünf im Heizkeller mit dem Kehrblech das Wasser rausgeschaufelt und rausgetragen. Es in den Abfluss der Waschküche zu kippen bringt nichts mehr – das kommt vorne zum Revisionsschacht wieder raus. So gegen halb Sieben wecke ich meine Mitbewohnerin, als ich mit Hammer und Meißel das einzementierte Sieb vom Abfluss rausstemme, um es zu reinigen. Gemeinsam schaffen wir an Wasser raus, was wir können. So gegen Acht, halb Neun ist der Heizkeller so trocken wie wir ihn kriegen können, in den anderen Teilen läuft es immer noch aus der Wand, aber nicht mehr so viel. Es regnet nicht mehr. Von Sorge um mein geliebtes Connemara-Pony getrieben mache ich mich auf zum Stall, nichtahnend, was mich erwartet.
Ich schlage automatisch die gewohnte Route von Erftstadt Liblar nach Bliesheim ein, komme bis zur Kallenhofstrasse, da steht die Brücke bereits unter Wasser. Die Erft hat ihr Bett verlassen. Etwas, das ich in allen Jahrzehnten, die ich in Erftstadt wohne, nicht erlebt habe. Ich drehe, und fahre den Umweg über Lechenich. Vor der Brücke nach Bliesheim steht bereits eine teichgroße Pfütze vor der Autobahnbrücke, die vom Feld über die Straße geflossen ist. Aber noch passierbar. Vor der Hofzufahrt steht auch schon das Wasser. Die Feuerwehr organisiert gerade die Evakuierung der Anwohner. Ich drehe, die Zufahrt zum Stallgelände über das hintere Tor, zu dem ich den Schlüssel habe, ist noch frei. Noch bevor ich vor unserem Offenstall parke, kommen mir andere Pferdebesitzer entgegen. „Das Wasser steht schon vor dem kleinen Heuschober. Und die Pferde unten, die müssen evakuiert werden, aber wir kriegen keinen erreicht.“ Ich stelle das Auto ab, sehe um die Ecke, sehe wo das Wasser steht. Sehe die Pferde vom näher zum Bach hin gelegenen Offenstall panisch bis zum Bauch im Wasser, wo ihre Weide war. Die anderen machen sich sofort auf den Weg nach unten. Ich meine noch Halfter holen zu müssen und kämpfe mich damit durch die Fluten. Das Wasser geht mir bis über den Oberschenkel, krieg nasse Hose, kämpfe gegen die immer stärker werdende Strömung, realisiere, dass es vielleicht nicht schlau war, da noch rein zu waten. Die anderen sind bereits an der Wiese und haben es geschafft, die Litzen zu öffnen. Die Pferde galoppieren – ohne Halfter – raus, auf das höher gelegene Gelände. Ich mühsam durchs Wasser planschend hinterher. Oben wurden die Pferde bereits entgegengenommen und ins nächstgelegene Paddock verfrachtet. Die Besitzerin ist inzwischen eingetroffen. Ihr Haus steht unter Wasser, und jetzt auch noch der Stall, bis zur Dachkante. Auf dem Rückweg zum Auto kommt mir eine Miteinstellerin samt Tochter durchs hintere Tor entgegen, bis über die Knie durchs Wasser stiefelnd. Wo eben noch trockener Asphalt war. Mit dem Auto komme ich da nicht mehr raus. Ich parke den Wagen am höchsten erreichbaren Punkt auf dem Gelände vor der Scheune. Unsere Pferde stehen dort auf der angrenzenden Weide, bislang trocken. Obwohl nicht akut in Gefahr, ist die ganze Herde nervös. Ich habe Mühe, Janka ihre nasse Fliegenmaske auszuziehen. Danach kann ich nur noch über den Friedhofszaun rausklettern. Ich schaffe es tatsächlich, mich per Anhalter wieder nach Liblar durchzuschlagen. Später reime ich mir zusammen, dass dies wohl die Flutwelle war, die ausgelöst wurde als das Rückhaltebecken bei Horchheim das Wasser nicht mehr halten konnte.
Rest des Tages: Keller wischen. Zerfressen von Sorge. Die Pferde. Mein Pony. Das Auto. Meinen Anhänger habe ich schon nicht mehr gesehen, der fällt mir irgendwann in der Nacht ein, und ich schreibe ihn lakonisch ab. In den Medien häufen sich die Schreckensnachrichten. Jahrhundertflut. Im Ortsteil Blessem bricht die Erft in die Kiesgrube am Ortsrand ein, die Wände der Grube rutschen ab, und reißen Teile der historischen Burg und mehrere Wohnhäuser mit sich. In Liblar steht das Marienhospital unter Wasser und muss evakuiert werden. Desgleichen das Seniorenheim. Die Aral-Tankstelle wird überflutet und läuft aus. Der alte Ortsteil von Liblar entlang der Luxemburger Straße versinkt. Im Bereich der Schnellstraße in Richtung Brühl wird die Luxemburger Straße von einer Flutwelle überrollt, das Wasser steht Oberkante LKW, Autos versinken. Die Rettungshubschrauber sind ununterbrochen in der Luft, aus allen Richtungen schrillt das Martinshorn. Die Geräuschkulisse begleitet uns die nächsten drei Tage.
Gegen Abend hält es mich nicht mehr, ich versuche mich mit dem Fahrrad die drei Kilometer nach Bliesheim durch zu schlagen. Auf dem kürzesten Weg, in der Hoffnung, wenigstens abschätzen zu können, wo das Wasser steht, aber unser Stall ist von da aus nicht zu sehen. Die Kallenhofstraße existiert praktisch nicht mehr. Erft und Liblarer Mühlengraben sind eins uns rauschen als mehrere hundert Meter breite schlammbraune Flut durch den Ort. Wo die Straße sein sollte, wirbeln Stromschnellen. Alt-Bliesheim ist komplett unter Wasser. An der nächsten Kreuzung treffe ich eine Vereinsfreundin, aufgelöst und fertig mit den Nerven. Ihr Offenstall gegenüber dem Vereinsreitplatz wurde von den Fluten überrascht und ist metertief darin versunken. Zwei Besitzerinnen hatten noch versucht, die Pferde zu evakuieren, wurden dabei aber selber vom Wasser mitgerissen, konnten sich noch am Rand des Geländes an Bäumen festhalten und hockten dort stundenlang, während ihre Pferde sich gegen die Fluten aufbäumten, wieherten, schwammen, kämpften, und die Ziegen und Schafe von den benachbarten Wiesen und Kleingärten in Todesnot schrien. Der erste Rettungsversuch von Seiten der Feuerwehr scheiterte, das Boot wurde von einer Welle erfasst, kenterte durch. Woraufhin 4 Menschen in den Bäumen saßen. Es wurden dann per Hubschrauber Strömungsretter eingesetzt. Eine Person konnte gesichert werden, die andere wurde mitsamt dem Retter weiter abgetrieben bis zu einem rettenden Laternenmast, von dem sie endlich geborgen werden konnten.
Fünf der Pferde stehen immer noch bis über die Brust mitten in den gurgelnden, schlammbraunen Fluten, dicht beisammen, sichtlich erschöpft, stützen immer wieder die Köpfe auf den Kruppen der anderen ab. Zwei weitere konnten ein Stück unterhalb lokalisiert werden, und einen Wallach hat es über die Kallenhofstraße getrieben – er steht ganz allein in der Flut. Ein Pferd ist vermisst. Wir können sie sehen, aber es ist kein Herankommen: die Strömung ist zu stark, und es sind zu viele Zäune dazwischen. Mit einem Boot, einem Zodiak mit einem leistungsstarken Außenborder und einem Zaunschneider – vielleicht. Aber sowas hat hier keiner, und ohnehin werden alle vorhandenen Ressourcen im Moment für die Menschenrettung gebraucht. Ein winziger Hoffnungsstrahl: das Wasser sinkt. Was allerdings immer noch als Damoklesschwert über uns schwebt, ist der drohende Dammbruch der Steinbachtalsperre: das würde eine weitere Flutwelle auslösen, von der keiner sagen kann, wie hoch sie dann steigt.
Zurück in Liblar. Baumarkt und Einkaufszentrum sind geflutet, die alte Ortsdurchfahrt steht hoch unter Wasser. An den Straßenecken die völlig fertigen Anwohner. Handys werden gezückt, das Malheur gefilmt. Neugierige, aber so mancher macht die Bilder wohl auch für die Versicherung.
Zuhause: Wir haben immer noch keinen Strom. Meine Mitbewohnerin und ich geben uns bei Kerzenschein abends mit einer Flasche Weißwein die Kante.
Freitag, 16. Juli 2021
Meine Mitbewohnerin bietet an, mich nach Bliesheim zu fahren, mein Auto holen. Falls es noch steht. Denkste. Wir kommen bis zur Kreuzung bei Frauenthal. Es stinkt durchdringend nach Diesel und Benzin. Die Araltankstelle ist ausgelaufen. Weiterfahrt gesperrt. Erftstadt ist praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Also zurück.
Die Straßenseite gegenüber von unserem Haus hat Strom – hängt offensichtlich an einem anderen Verteiler. Die Nachbarn legen uns per Kabeltrommel eine Notstromversorgung, an die wir wenigstens die Gefrierschränke anschließen können. Der Verlust der Lebensmittel wäre nicht das schlimmste. Aber das ganze aufgetaute Zeug entsorgen müssen.
Ich schwinge mich wieder aufs Fahrrad. Wo ein Auto nicht mehr durchkommt, kann ich das immer noch durchschieben. Aber ich muss wissen, was mit unserem Stall, unseren Pferden ist. Auch mit meinem Auto, aber das ist sekundär. Ich schaffe es tatsächlich auf dem Umweg über Lechenich zum Stall zu kommen. Das Wasser ist schon recht weit abgeflossen. Mein Auto ist unversehrt. Die sechs Pferde unserer Stallgruppe – zwei Connemaras, ein Vollblut, ein Fjordi, eine Bosniakin und ein rasseloser Wallach im Appaloosa-Design stehen im Unterstand, alle heil, nur sichtbar übernächtigt.
Einen der Pferdehänger hat es durch den Zaun gehauen, er steht im Acker. Meinen hat das Wasser ein Stück versetzt, aber dann haben ihn die Büsche vor dem Zaun aufgehalten. Er wirkt auf den ersten Blick weitgehend intakt. Ich montiere meine Anhängerkupplung und mache mich eben anheischig, den Hänger zu bergen, als einer der Eigentümer des Geländes angerannt kommt und mir panisch mitteilt: „Macht dass ihr wegkommt, die Steinbachtalsperre ist durchgebrochen!“ Ich wende nur noch und trete aufs Gas. Vergesse Fahrrad, Packtaschen samt Geldbeutel, nur noch Land gewinnen – ich weiß, wie schnell Wasser ist! Ich komme trotzdem nicht mehr bis nach Liblar durch. In Lechenich gestrandet, klingle ich bei einer Freundin meiner Mutter. Hocke dort erst mal und genieße die erste warme Mahlzeit nach zwei Tagen. Die Suppe mit Regenwasser gekocht, weil man das Trinkwasser angeblich nicht mehr benutzen soll. Ein Hoax, wie sich herausstellt, der dazu führt, dass in den Supermärkten panisch Wasser gekauft wird. Immerhin haben in Lechenich noch Läden offen. In Liblar geht nichts mehr. So nach zwei Stunden kommt es mir komisch vor, dass ich in den Medien keinerlei Bestätigung für den Dammbruch finde. Verabschiede mich, um die Lage zu peilen. Die Straße von Lechenich nach Liblar auf der ich gekommen bin, ist. Auch das mit dem Dammbruch war ein Hoax. Wer immer den abgesetzt hat, ich möchte ihn schlachten! Leider bleibt der nicht der einzige. In den folgenden Tagen häufen sich Fake News in den Social Media. Vieles mag falsch oder nur halb verstanden und gedankenlos weitergepostet sein, aber bei so einigem muss man den Vorsatz unterstellen Panik zu verbreiten, Unwillen und Wut zu schüren. Ich verspüre inbrünstigen Hass auf diese Kreaturen und hoffe inständig, dass man sie juristisch bei den Hammelbeinen kriegt.
Eine gute Nachricht gibt es immerhin: die Pferde, die gestern nicht mehr aus der Erft geholt werden konnten, wurden inzwischen geborgen. Die vermisste Stute hat sich eingefunden. Alle haben überlebt. Es geht ihnen den Umständen entsprechend. Im weiteren Verlauf mussten alle vorübergehend in die Klinik, aber sie werden wieder.
Zurück in Liblar: unsere Nachbarn sind deutlich tiefer abgesoffen als wir. Hinzu kommt, dass sie teilweise Wohnkeller haben, mit Möbeln, Teppichen, Büro einschließlich Computer. Meine Mitbewohnerin und ich helfen, das Zeug aus dem Keller zu schleppen und das Wasser weg zu wischen. Irgendwann geht auf einmal das Licht an. Hurrah! Wir haben wieder Strom! Wir freuen uns alle so, dass wir auf der Straße eine Flasche Rotwein killen und auf nachbarschaftliche Brüderschaft anstoßen. Es reicht für nicht mehr als ein Probierglas für jeden, aber ich habe danach merklich einen im Tee.
Samstag, 17. Juli 2021
Rumtelefonieren. Freunde und Verwandte, die Lage mitteilen oder abfragen. Wo wird Hilfe gebraucht, wo kommt man noch durch, was geht, was geht nicht mehr?
Ich schaffe es mit Hilfe meiner Reitbeteiligung, meinen Hänger zu bergen. Innen voll Schlamm, untendrunter voller Dreck, Gras und Geäst. Den Hochdruckreiniger kann ich nicht einsetzen, es gibt in ganz Bliesheim keinen Strom. Der Hänger hat die Tauchfahrt scheinbar überstanden, aber die Elektrik funktioniert nicht einwandfrei. Als eine Freundin mich wenig später anruft und einen Hänger braucht, um ein Pferd in die Klinik zu bringen muss ich leider ablehnen – das Ding ist vorerst nicht verkehrssicher.
Der Offenstall einer anderen Freundin, gerade erst übernommen und liebevoll renoviert ist ebenfalls komplett abgesoffen. Ihrer liegt in Weilerswist, Nachbargemeinde, aber Kreis Euskirchen. Der bachseitig gelegene Ortsteil sieht mindestens so schlimm aus wie Liblar und Bliesheim, scheint in den Medien aber nicht mal erwähnenswert. Die Straße in den Ort ist unterspült, mit dem Auto nicht mehr passierbar. Ich parke außerhalb am Friedhof, gehe zu Fuß. Wohnstraße die zum Stall führt ist von Rettungsfahrzeugen verstopft, die rechts und links Wasser abpumpen, und was sonst noch über Straßen und Gärten geschwappt ist. In mehreren Häusern sind die Öltanks ausgelaufen. Der ganze Schmodder ist über die Weiden geschwappt bis in die Ställe. Es stinkt bestialisch nach Diesel. Die Pferde konnten gerade noch rausgeholt werden, der kleine Shetty war schon am Schwimmen. Ihr Araberwallach steht schwer krank in einer Box im Reitstall. Die anderen in einem notdürftig zum Paddock umfunktionierten Vorgarten an der stark befahrenen Hauptstraße. Die Heuvorräte sind nass, die Weiden nicht mehr zu gebrauchen, wie bei fast allen. Wie lange kann keiner sagen, aber dieses Jahr bestimmt nicht mehr. Das Wasser aus dem Bach ist auch nicht mehr nutzbar und muss irgendwie rangeschafft werden. Wir schaufeln Ölschlamm und verschmutzen Sand aus den Paddocks, damit wenigstens diese wieder benutzbar sind und die Pferde aus dem Vorgarten wegkommen, der alles andere als sicher ist. Freilaufende Pferde im Straßenverkehr ist das letzte, was gerade noch gebraucht wird.
Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend, es wird rundherum organisiert, was irgendwie geht, teilweise von Leuten weit außerhalb der Region. Die Kehrseite ist blinder Aktionismus, Straßen verstopft mit den Fahrzeugen von Hilfswilligen, die die Arbeit der Rettungskräfte behindern, sich türmende Sachspenden, die keiner will und keiner braucht. Am Späten Nachmittag erreicht uns ein Aufruf zu einer großen Evakuierungsaktion von Pferden. Es würden Zugfahrzeuge und Hänger gebraucht. Wir sitzen bereits im Auto, als sich auf Rückfrage die Aktion als weiterer Hoax herausstellt. Etliche hatten sich bereits beim angegebenen Treffpunkt eingefunden und wurden von der Feuerwehr wieder wegeschickt, weil sie mit ihren Gespannen die Retter behinderten. Welches kranke Hirn denkt sich sowas aus? Ich hoffe, es wurde Anzeige gestellt!
An der Talsperre hat man es inzwischen geschafft, den verstopften Grundablass frei zu kriegen, aber der Wasserstand ist immer noch zu hoch, um Entwarnung zu geben.
Sonntag, 18. Juli 2021
Weitermachen mit den Aufräumarbeiten. Ich hänge mich ans Internet, suche Informationen wie mit der Verseuchung umgegangen werden kann. Ist nicht vordringlich, aber Klarheit und Planbarkeit anstelle von Befürchtungen und Horrorszenarien im Kopf helfen auch schon. Koche nebenbei einen Topf Eintopf, den ich später mit zum Stall nehme. Auf dem Weg nach Weilerswist muss ich durch Bliesheim. Es ist fast kein Durchkommen. Containerfahrzeuge voll mit immer noch tropfendem Müll – das was einmal Wohnung war – pendeln in beide Richtungen. Katastrophentouristen drängeln sich mit ihren E-Bikes vorbei. Dazwischen professionelle Schrottsammler, die die Müllberge fleddern. In Teilen von Erftstadt ist es bereits zu Plünderungen gekommen, u.a. im Marienhospital, das jetzt von der Polizei gesichert werden muss.
Die Stimmung ist zwischen Fatalismus und Resignation. Immerhin ist der Paddock in Weilerswist soweit, dass die Ponys, einschließlich der beiden Alten aus dem Nachbarstall wieder einziehen können. Wasser wurde organisiert. Ohne Radlader oder Gabelstapler sind die vollen Behälter aber nicht vom Hänger zu kriegen. Also wird das Wasser vom vollen in einen leeren umgeleitet, mit einem alten Feuerwehrschlauch, um dann den geleerten auf die Straße zu heben und ebenfalls zu befüllen. Eine Aktion, die sich unvermutet schwierig gestaltet. Aber am Ende funktioniert. Gegen Abend Kopfschmerzen wie von einem Megabesäufnis von den immer noch wabernden Dieseldämpfen. Weiß nicht, ob es so gut war, die Pferde schon wieder zu holen. Man wird sehen.
Montag, 19. Juli 2021
Meinen Urlaub, den ich diese Woche eigentlich antreten wollte, gecancelt. Kann nicht weg, solange es keine Entwarnung am Staudamm ist. Außerdem ist Österreich, wo ich hinwollte, jetzt ebenfalls Katastrophengebiet. Ich wähle mich bei meiner Firma ein, versuche zu arbeiten, und merke, dass ich das nicht kann. Kann mich nicht konzentrieren. Der Kopf ist woanders. Ich versuche zu klären, ob eine Freistellung bekommen kann. Freigestellt wurden von Firmenseite bereits Angehörige von freiwilligen Rettungsdiensten. Dass auch es Mitarbeiter gibt, die mitten im Katastrophengebiet beheimatet sind, hat man noch nicht auf dem Schirm. Man verspricht mir, eine Regelung für mich zu finden.
Ich breche den Arbeitsversuch ab, fahre zum Stallgelände, das immer noch nicht auf direktem Wege erreichbar ist und bis auf weiteres bleibt: In Bliesheim, durch die Erft zweigeteilt, ist keine einzige Brücke mehr mit dem Fahrzeug passierbar, die beiden Ortshälften voneinander isoliert.
Wir müssen das nasse Heu auseinanderziehen und schnellstmöglich entsorgen: Gefahr der Selbstentzündung. An einigen Stellen qualmt es bereits.
Bisherige Bilanz: Keine menschlichen Todesopfer bekannt. In Bliesheim zumindest auch keine toten Pferde. Ich weiß nur von zweien in Liblar, die jedoch nicht ertrunken, sondern in Panik in ein Bergungsfahrzeug gerannt sind. Die Tiere in den Kleingärten längs der Erft jedoch, Ziegen, Schafe, Damwild und Geflügel sind fast alle ertrunken. Nur ein paar wenige wurden lebend gefunden. In den folgenden Tagen werden auch immer wieder Hausenten und Gänse gesichtet. Im Gegensatz zu den Hühnern konnten die schwimmen.
Dienstag, 20. Juli 2021
In Bliesheim ist das Wasser soweit abgeflossen, dass man die Verwüstung richtig sieht. Die komplette Erftaue ist ein Sumpf, Hütten weggeschwemmt, Zäune umgelegt, was noch steht mit Grass behangen, bis hoch in die Bäume. Wo Gebüsch im Weg stand, Haufen von Schwemmgut. Wir räumen den großen Offenstall unserer Freunde hinter dem Sportplatz. Das war einmal einer der schönsten Ställe im ganzen Umkreis, ein Pferdeparadies. Jetzt eine braune Sumpflandschaft. Mit vereinten Kräften versuchen wir zu bergen und zu säubern was geht. Schlamm wohin man sieht. Der Dieselgeruch hat sich weitgehend verflüchtigt. Dafür stinkt es jetzt nach Tod. Die Brühe auf den Wiesen gärt. Die Feuerwehr hat die meisten ertrunkenen Kleintiere geborgen, aber es liegen immer noch welche unter dem Schwemmgut und fangen an zu verwesen. Der Container mit den Kadavern steht in der Sonne, Schwärme von metallisch grünen Fliegen finden sich ein. Der Geruch reizt zum Erbrechen.
Gegen Abend ist der größte Teil des Mülls, einschließlich des nassen Heus rausgebracht und abgefahren, dank selbstloser Helfer aus der Landwirtschaft, die das mit ihrem schweren Gerät bewältigen konnten.
Die Folgetage
Hubschrauber und Martinshorn sind immer noch zu hören, aber nicht mehr permanent. Am Ein- und Ausgang der betroffenen Ortschaften türmen sich gigantische Müllhalden. In Weilerswist hat sich der Sportplatz in eine meterhohe Kippe verwandelt. Nach dem Wasser das Feuer: die Entsorgungsanlage Remondis brennt, und kurz danach ein Haus in Bliesheim. Die Ursache nicht näher bekannt. Allerdings haben wir bei dem Haus durch die Hecke hindurch im Garten Flammen gesehen.
Die Pferde der meisten sind fürs erste irgendwo untergebracht und versorgt. Wir werden überhäuft mit gutgemeinten Spendenangeboten. Nicht alles sinnvoll oder auch nur überlegt. Wir haben keinen Lebensmittelengpass, die Straßen sind soweit frei, dass jeder irgendwo hinfahren und einkaufen kann. Die Notquartiere der obdachlos gewordenen Einwohner sind weitgehend versorgt. Futter für die Tiere, da wo sie jetzt sind, ist fürs erste vorhanden. Klar wird Heu und Stroh gebraucht – langfristig. Im Moment können die meisten es gar nicht lagern. Was akut gebraucht wird, immer noch, sind Hände und Gerät – von simplen Dingen wie Arbeitshandschuhen, Gummistiefeln, Schaufeln bis Motorsäge, Frontlader, Bagger, Containerfahrzeug. Dank der Hilfe aller, das bekommen wir, das funktioniert. Wir haben jetzt eine WhatsApp Group, wo wir Hilfsangebote und Bedarf koordinieren können.
Ein Teil der Helfer hat sich inzwischen über unser Vereinsgelände erbarmt. Es sieht verheerend aus. Unser schöner Reitplatz, mühsam zusammengespart – hin.
Die Bauwagen mit Teeküche und „Spielgerät“, mit dem wir kleine Parcours aufbauen konnten, ein schlammbraunes Chaos. Der größere Bauwagen kann nur noch komplett entsorgt werden. Die Einzäunung aus dicken, betongefüllten und einzementierten Metallpfosten wurde vom Wasser in großen Teilen einfach umgelegt. Die Anlage des Platzes allein hat seinerzeit rund 12.000 € gekostet. Wir haben noch etwas 7.000 € in der Kasse.
Der Reit- und Fahrverein Erftstadt Bliesheim e.V. ist ein kleiner, ländlicher Reitverein, der überwiegend getragen wird von Freizeitreitern, die ihre Pferde artgerecht in Offenställen halten und über keine eigenen Trainingsanlagen verfügen. Der Winter kommt auf uns zu, die lange dunkle Zeit, wo man auf unserem Platz immer noch bei Flutlicht arbeiten konnte. Ob der Platz bis dahin wieder soweit instandgesetzt werden kann, dass er nutzbar ist – wir wissen es nicht.
Der Schaden – in den Wohnhäusern, den Ställen, den Sportgeländen und auch auf den Garten-, Acker- und Weideflächen ist überhaupt noch nicht abzuschätzen und kalkulierbar. Wieviel Geldmittel wofür gebraucht werden ist offen. Sicher ist, dass wir Mittel brauchen werden. Mittelfristig, und langfristig. Noch steht das Wasser teilweise knietief. Sowie der Untergrund es erlaubt, muss hier mindestens gemulcht, je nach Kontamination auch gemäht und entsorgt werden. Es wird Zaunmaterial gebraucht werden, und nicht nur E-Pfähle und Litze. Baumaterial, Bodenmaterial, Sand, Kies, Lava, denn das ist vielfach einfach weggeschwommen. Wo das Bachwasser nicht mehr zum Tränken genommen werden kann, müssen Lösungen gefunden werden. Geräte, Fahrzeuge, Maschinen wie Mäher, Traktoren, Anhänger, Pumpen und Stromaggregate, die das Wasser nicht überlebt haben, müssen ersetzt werden. Auch an Ausrüstung am Pferd wird so mancher einiges zu ersetzen haben. Und unser wunderschönes Ausreitgelände – in Teilen nicht mehr erreichbar, nicht mehr bereitbar. Die Wege sind gesperrt oder einfach weg.
Für das kommende Wochenende ist neuerlicher Starkregen angesagt. Einerseits vielleicht gut, wenn der Schlamm, der inzwischen zu Staub mutiert ist, abgewaschen und ausgeschwemmt wird. Aber wir haben alle Angst, dass die Bäche wieder anschwellen, über die Ufer treten und das Geleistete zunichtemachen und das Gerettete endgültig zerstören. Angst um unser Zuhause, unsere Familien, unsere Tiere.
Zu hoffen bleibt, dass dieser Kelch an uns vorüber geht, und dass die Politiker ihr vollmundiges Versprechen von unbürokratischer Hilfe auch wahrmachen.
Weitere Informationen und Bilder zum Hochwasser finden sich auf der Webseite vom RuFV Erftstadt Bliesheim: